Foto und Rede-Text: Philipp Heinlein, cc-by-sa-4.0
Am Mittwoch den 19.7.23 gab es wieder einen dieser Termine, den man am liebsten streichen würde: eine Gedenkveranstaltung für eine tote Radfahrerin. Noch schlimmer wird dieser Vorfall, weil genau an dieser Kreuzung vor 3 Jahren ein anderer Radfahrer gestorben ist (klick).
Die Mahn- und Gedenkreden werden immer von verschiedenen Menschen vorgetragen – diesmal redete Philipp Heinlein von „Changing Cities“.
Seine Rede hat uns nicht nur von der Emotion sehr berührt – sondern auch inhaltlich auf sehr treffende Art die aktuelle Situation beschrieben.
Philipps Rede im Wortlaut:
Hallo, ich bin Philipp Heinlein, ich lebe unweit von hier in Adlershof und engagiere mich ehrenamtlich bei Changing Cities.
Wir sind hier, um einer Person zu gedenken, die an dieser Kreuzung ihr Leben verloren hat. Jeder tödliche Verkehrsunfall verursacht Verlust und Leid bei vielen Menschen: Bei den Unfallbeteiligten, bei denen, die ihnen nahestehen, auch bei Ersthelfer:innen und Einsatzkräften. Wir wollen jetzt unserem Mitgefühl & unserer Solidarität in einer Minute der Stille Ausdruck verleihen.
––
Wo stehen wir hier? Diese Kreuzung ist ein typisches Produkt der autogerechten Stadt, die Anfang der 1970er Jahre beiderseits der Mauer als Planungsideal galt: Eine riesige Asphaltfläche mit Kurvenradien einer Rennstrecke, die Kraftfahrende zum Rasen einlädt ohne ihnen die nötige Orientierung zu bieten und die Menschen ohne Auto nicht wirklich vorsieht. Als das Allendeviertel entstand, herrschte ein blinder Auto-Optimismus, der auch vom Wettbewerb der Systeme befeuert wurde.
Dass hier vor weniger als drei Jahren ein Mensch nach genau demselben Muster sterben musste, böte Anlass für eine Anklagerede gegen alle Menschen, die diesen Unort seither so beließen. Ich möchte das Gegenteil versuchen und zu einem neuen, weniger blinden Optimismus einladen.
Schwere Abbiegeunfälle passieren in Deutschland häufig und sind gut erforscht. Aus anderen Ländern kennen wir wirksame Maßnahmen dagegen, von baulicher Trennung, getrennter Signalisierung über Abbiegeassistenten bis hin zu einem Abbiegeverbot an dieser Kreuzung ist vieles möglich, was das Leben zwischen Allendeviertel, Krankenhaus und Müggelsee nicht nur schützt, sondern es auch jeden Tag angenehmer macht.
Auf der anderen Seite gibt es wirkungslose Maßnahmen wie Farbe auf der Straße ohne baulichen Schutz oder visuelle Aufrüstung vulnerabler Verkehrsteilnehmer*innen mit Warnwesten, Blink-Ampeln, Baken und dergleichen. Senat und Bezirk haben sich 2020 nach dem ersten tödlichen Abbiegeunfall für solche Placebomaßnahmen und gegen wirksamen Schutz entschieden. Ein tödlicher Fehler, wie wir heute feststellen müssen. Farbe ist keine Infrastruktur.
Grundlage der autogerechten Stadt der 1970er Jahre war, dass es damals viel weniger Autos gab als heute. Wenn die Menschen gewusst hätten, zu welchen Schäden an Gesundheit, Leben und Umwelt ihr Auto-Optimismus führt, hätten wir jetzt wahrscheinlich eine bessere Kreuzung. Der neue Optimismus, für den ich – auch gegen Widerstände der Auto-Lobby – werben möchte besteht darin, dass wir Orte wie diesen in Ordnung bringen.
Ich sehe hier in Euch Anwesenden mehr Wissen und Sachverstand versammelt als im Design der meisten Berliner Kreuzungen. Bitte bleibt verfügbar, Euren Sachverstand für konkrete Verbesserungen zu teilen – wenn Euch jemand fragt.
Liebe Mandatsträger*innen, mit „jemand“ seid Ihr gemeint. Nutzt den Sachverstand aus Wissenschaft und Gesellschaft und pfuscht nicht „nach eigener Beobachtung“ willkürlich herum, wie wir über die Kreuzung am Checkpoint Charlie lesen müssen.
Lieber Bundesminister Wissing, schade dass Abbiegeassistenten erst nächstes Jahr verpflichtend werden und deshalb dieses Jahr noch immer Menschen sterben müssen. Ehrlich gesagt sind Sie ein hoffnungsloser Fall, mit dem ich die Betroffenen heute nicht belasten möchte. Ich schlage vor, dass wir das Problem notfalls auch ohne den Bund in Berlin angehen. Deutschlands größte Stadt sollte besser selbst entscheiden, welche Fahrzeuge hier fahren dürfen.
Liebe Verkehrssenatorin Schreiner, in Ihrer Pressemitteilung, zufällig am Tag des Unfalls erschienen, bekennen Sie sich wie folgt:
„Oberstes Gebot ist und bleibt die Verkehrssicherheit – sie hat allerhöchste Priorität bei der Beurteilung von Straßen. Die Vision Zero, also die Vermeidung von Verkehrstoten, ist der zentrale Auftrag“. Liebe Manja Schreiner, das widerspricht zwar allem, was wir bisher von IHnen gesehen haben, und noch während Sie „Vision Zero“ sagen, müssen wir die zweite Tote Ihrer Amtszeit beklagen, aber warum nicht? Einverstanden, machen Sie diese Kreuzung sicher! Heute noch!
Liebe Stadträtin Claudia Leistner, dass Farbe keine Infrastruktur ist, hat der Bezirk Treptow-Köpenick hier hinreichend bewiesen. Machen Sie ihre Behörde bereit, Farbe und fromme Wünsche durch wirksame Maßnahmen zu ersetzen. Fangen sie hier & jetzt damit an.
Liebe Mandatsträger:innen, wir nehmen Sie beim Wort. Setzen Sie Vision Zero in einem Sofortprogramm konkret an dieser Kreuzung um. Wir von Changing Cities werden dranbleiben und Sie – auch öffentlich – daran messen und nötigenfalls erinnern.
Wir – vom ADFC Treptow-Köpenick – können uns diesen Worten uneingeschränkt anschliessen.