Tourbericht Wandelwoche: Essenslieferdienste und Kurierkollektive in Berlin am 14.9.2020

Smart eG, zu der auch das Kurierkollektiv Kolyma2 gehört – cc-by-sa-4.0; Stg-TK des adfc-berlin

Fahrradkuriere liefern so ziemlich alles, was auf ein (Lasten-) Fahrrad passt – und darüber hinaus. Im Rahmen der Wandelwoche 2020 führten uns die kollektiv und genossenschaftlich organisierten Essenskuriere von Kolyma2 mal auf Deutsch, mal auf Englisch zu verschiedenen Stationen zwischen Treptow, Neukölln und Kreuzberg. Von kollektiv organisierten Supermärkten über urbane Gärten bis hin zu zero-waste-Ansätzen bei Essenslieferdiensten und einer Genossenschaft der Selbstständigen war alles dabei.

Start der Tour „Mapping the territory – Essenslieferdienste und Kurierkollektive in Berlin“ im Rahmen der Wandelwoche Berlin-Brandenburg 2020 war die Neue Republik Reger in Treptow, eines der mit Kolyma2 kooperierenden Restaurants.

Bei einer Tasse Kaffee stellten sie ihre Versuche vor, ein Kollektiv im Restaurantbereich aufzubauen – keine einfache Aufgabe. Hilfe und Beratung für angehende Kollektivbetriebe ist manchmal schwierig zu finden – Vernetzung und Erfahrungsaustausch um so wichtiger. Hierfür engagiert sich das kooperativ e.V. als Veranstalter der Wandelwoche Berlin-Brandenburg.

Das kontinuierlich wachsende Kurierkollektiv Fahrwerk erläuterte uns, wie Selbstverwaltung im klassichen Radkurierbereich funktionieren kann. Wer dort mitfahren will, muss sich auch in den Arbeitsgruppen an der Organisation beteiligen.

Wissensaustausch mit Dr. Pogo und SuperCoop im Park – cc-by-sa-4.0; Stg-TK des adfc-berlin

Danach ging es per Pedales ins Richardkiez zum erfahrenen Kollektiv um den Veganladen Dr. Pogo. Für sie sind auch personelle Stabilität und die gemeinschaftliche Verfügbarkeit von Wissen zentrale Pfeiler für ihre Arbeit. Ungewöhnlich ist ihre Rechtsform: Ein eingetragener Verein mit vorwiegendem Wirtschaftsbetrieb sowie einem zusätzlichen zivilrechtlichem Vertrag.

Exkurs: Die Wahl der Rechtsform ist ein grundsätzliches Problem für selbstverwaltete Betriebe, da die möglichen Rechtsformen in Deutschland kaum etwas Passendes bieten. Die hochregulierte eingetragene Genossenschaft, der Verein oder die GmbH sind nur Hilfskonstruktionen mit großen Nachteilen für demokratische Unternehmen. Den Status als wirtschaftlicher Verein zu erlangen ist mit bedeutenden Schwierigkeiten verbunden. Während der Hochzeiten des deutschen Genossenschaftswesens in den 1920er und frühen 1930er Jahren war dies gänzlich anders. Die allein mehr als 50.000 eingetragenen Genossenschaften des Deutschen Reiches kontrollierten einen enormen Teil der Wirtschaft und basierten auf einer deutlich einfacheren, auf Freiwilligkeit basierenden Rechtsform. Die umfassenden Prüf- und Kontrollpflichten des heutigen Genossenschaftsrechts gehen auf deren Gleichschaltung und Zerschlagung durch die deutschen Faschisten zurück und sind weitgehend unverändert in Kraft (vgl. Kaltenborn, Wilhelm (2014): Schein und Wirklichkeit. Genossenschaften und Genossenschaftsverbände. Eine kritische Auseinandersetzung). Von Seiten des Gesetzgebers gibt es offenbar kein Interesse, Demokratie in der Wirtschaft durch eine passende Rechtsform zu erleichtern.

Angeschlossen an Dr. Pogo ist das Vertriebskollektiv gemein&nützlich, welches international Produkte selbstverwalteter Betrieb aufkauft und hier vertreibt.

Einen anderen Weg beschreitet die SuperCoop. Ziel ist eine Konsumgenossenschaft nach internationalen Vorbildern in der Form eines modernen Supermarktes in Berlin, der auch hochwertige Produkte günstig für seine Mitglieder verfügbar macht und zugleich die Bedeutung guter Lebensmittel vermitteln will.

Vom Richardkiez aus ging es zum Prinzessinnengarten-Kollektiv auf dem Neuen St. Jacobi Friedhof in Neukölln. Dieser wird, wie viele andere Friedhöfe in Berlin, immer weniger für neue Grabstätten gebraucht und bietet damit Raum für neuen Nutzungen Raum. Bei den Prinzessinengärten steht die nachbarschaftliche Gartenarbeit selbst im Vordergrund, das gemeinsame Ernten ist eher ein angenehmer Nebeneffekt. Wirtschaftlich trägt sich das Kollektiv auch durch Grabpflege und den angeschlossenen Cafébetrieb weitgehend selbst.

Der Prinzessinengarten stellt sich vor – cc-by-sa-4.0; Stg-TK des adfc-berlin

Danach stellten EOTL ihre Ideen einer müll- und plastikfreien, nachhaltigen Logistik vor. Quelloffene Soft- und Hardware ergänzen sich hier und zeigen Wege aus der gerade in Pandemiezeiten weiter zunehmenden Müllproduktion auf – nicht zuletzt auch im Bereich der Essenslieferdienste.

Aus der idyllischen Ruhe der Prinzessinengärten ging es durch den mehr als unangenehmen Berliner Verkehr zur Zwischenstation Reuterplatz, wo ein odachloser Pinguin für mich einmal mehr verdeutlichte, warum wir diese lange Tour zu einem besseren Wirtschaften und Leben überhaupt mitmachen.

Ein Unsichtbarer auf der Parkbank – cc-by-sa-4.0; Stg-TK des adfc-berlin

Unsere letzte Zwischenstation waren die Büros der Smart e.G. an der Mehringbrücke. Diese Genossenschaft bietet im Kern die sehr interessante Möglichkeit, das Einkommen aus einer Selbstständigkeit in ein Arbeitsverhältnis mit der eG umzuleiten und somit aus dem Selbstständigen einen ganz normalen Angestellten zu machen. Die Idee stammt aus Belgien, das Netzwerk an national eigenständigen Genossenschaften hat europaweit etwas 80.000 Mitglieder.

Räumlichkeiten der Smart eG – cc-by-sa-4.0; Stg-TK des adfc-berlin

Dort stellten sich ebenfalls die International Co-operative Alliance sowie die Deliverunion der Essenskurierfahrer in Berlin als Teil der syndikalistischen Freien ArbeiterInnen Union Berlin vor. Im Anschluss brachten die Kurierkollektive Kolyma2 und FoodFaries ihre Perspektive ein.

Hier ging es nun weitgehend um die prekären Arbeitsbedingungen auf der Straße. Im Gegensatz zu den milliardenschweren, durch Fremdkapital getriebenen und dabei verlustreichen Unternehmen wie Takeaway (Lieferando), Delivery Hero oder Wolt müssen die Kollektivbetriebe sofort Gewinn erwirtschaften und schlicht von ihren täglichen Fahrradkilometern leben. Zeit und Geld für Marketing, Kundenaquise und Softwareentwicklung ist praktisch nicht vorhanden. Der Zugang zu Institutionen oder die Beantragung von Fördergeldern bzw. Finanzierungen wird auch durch die sehr internationalen Hintergründe der Fahrer deutlich erschwert. Dabei sind es gerade diese kleinen, auf wirtschaftliche Eigenständigkeit und Gemeinwohlorientierung ausgerichteten Initiativen, die selbst mit geringen Fördermitteln viel erreichen könnten.

Ein Beispiel hierfür sind die verwendeten Plattformen, das verbindende Element zwischen Restaurant/Auftragnehmern, Fahrern und Kunden/Auftraggebern. Die großen Unternehmen im Markt haben ihre eigenen, proprietären Lösungen, welche effektiv jeden Marktzugang für selbstverwaltete Kurierfahrer unterbinden. Die von Kolyma2 (CoopCycle) und den Food Fairies (EOTL) verwendeten Softwarelösungen basieren auf minimalen Finanzmitteln und viel ehrenamtlichem Engagement von einzelnen Kurierfahrern. Sie sind dementsprechend zwar funktional, aber längst nicht so weit entwickelt wie die Plattformen von Lieferando und Co.. Hier gäbe es viel Potential für öffentlich geförderte, kontinuierlich weiterentwickelte und in entsprechender Konsequenz auch für Alle verfügbare Plattformen.

Zu CoopCycle gab es einen kurzen Bericht von Arte.

Nach diesen schwierigen Themen ging es zu guter Letzt zurück nach Treptow zur Neuen Republik Reger. Dort endete die hochinteressante Tour angemessen bei leckeren veganen Burgern und kühlen Getränken an einem lauen Spätsommerabend. Diese gibt es natürlich auch geliefert – in diesem Fall von Kolyma2, während die Food Fairies eher in Friedrichshain aktiv sind.

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